Heute wollen wir darüber sprechen, dass eine Angststörung manchmal tatsächlich eine willkommene Vermeidungsstrategie sein könnte.
Dieser Beitrag ist kontrovers und könnte eine ablehnende Haltung bei Dir auslösen. Doch nach meiner festen Überzeugung kann dieser Artikel auch extrem lehrreich für Dich sein und Dich auf Deinem Weg aus Angst und Panikattacken nach vorne bringen.
Darum wünsche ich Dir wichtige Erkenntnisse dabei.
Gisela ist sauer
Ich bekomme jeden Tag Dutzende von E-Mails. Leider ist es mir nicht mehr möglich, alle diese Anfragen zu beantworten. Da mich immer mal wieder mehrfach die gleichen Fragen erreichen, werde ich nach und nach häufig gestellte Fragen beantworten. Und die Antwort auf folgende Frage wird Dich vielleicht überraschen.
Gestern erreichte mich folgende Nachricht von Gisela (Name geändert). Gisela schreibt:
Ich war gestern bei meinem Psychiater und es war mal wieder ernüchternd. Ich habe seit über 10 Jahren diese elendige Müdigkeit und ein ausgeprägtes Erschöpfungsgefühl. Gestern meinte er dann zu mir, dass die Müdigkeit eine unterbewusste Vermeidungstaktik sein könnte.
Angeschnauzt hätte ich ihn am liebsten als er meinte ich sei ja körperlich ausdiagnostiziert. Bisher hat niemand mal nach Borreliose geschaut, Vitamine und Mineralien gecheckt und was es da noch alles gibt, was Müdigkeit/Erschöpfung mit sich bringt. Hab auch Muskelschmerzen… ob die auch ne Vermeidungstaktik sind?
Mich ärgert das sehr. Er tut, als wenn das alles nur an mir liegt, aber das tut es nicht! Hab ihm gestern auch klipp und klar gesagt, dass ich diesen Zustand mit Sicherheit nicht schön finde und dass ich weiß, dass ich psychische Probleme habe.
Hast Du schon einmal davon gehört, dass so was eine Vermeidungstaktik sein soll? Ich spiele mit dem Gedanken, mir einen neuen Therapeuten zu suchen. Welche Möglichkeiten habe ich?
Meine Antwort:
Eine Angststörung ist sehr anstrengend. Allein das macht schon müde. Muskelschmerzen könnten von der Anspannung, die damit einhergeht, kommen. Klar gibt es auch mögliche körperliche Ursachen. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass viele Menschen müde sind. Doch nicht jeder macht daraus so ein Riesenproblem.
Könnte es nicht Teil der Angststörung sein, dass Du Dich so auf die Müdigkeit fokussiert, statt diesen Zustand einfach mal (vorübergehend) hinzunehmen? Ist es nicht typisch, dass körperliche Veränderungen dramatisiert bzw. als besorgniserregend interpretiert werden?
Ich kenne dich nicht und möchte dich keinesfalls verurteilen! Meiner Erfahrung nach ist eine Angststörung nicht so selten GENERELL eine Vermeidungsstrategie. Durch die Angststörung hat man immer eine wunderbare Entschuldigung. Ich kann nicht, ich bin so müde…Dessen ist man sich natürlich nicht bewusst.
Und darum geht es auch nicht um Schuld oder Verurteilung. Dein Therapeut spricht ja auch von UNBEWUSSTER Vermeidungsstrategie und sagt doch nicht, dass du es dir bewusst aussuchst oder gar schön findest. Das tust du ganz bestimmt nicht.
Es lohnt sich vielleicht aber, mal darüber nachzudenken, ob da nicht ein Fünkchen Wahrheit dran sein könnte, ehe man sofort auf Abwehr geht. Und wenn man nicht so tun würde, als würde alles an dir liegen (nochmal: es geht nicht um Schuld), dann würde das bedeuten, dass die Lösung nicht in dir liegt.
Und wenn das so wäre, dann bist du passiv und kannst nichts tun. Dann hast du keinen Handlungsspielraum. Damit wäre auch eine Therapie vollkommen wirkungslos.
Und darum rate ich Dir, Dich dahingehend einmal zu hinterfragen. Hat Dein Therapeut vielleicht nicht ganz Unrecht?
Wieso wurden die Tests noch nicht gemacht?
Es ist fast immer so, dass wir zunächst organische Gründe für unsere Symptome vermuten. Und tatsächlich sollten wir das abklären lassen.
Müdigkeit ist eines der Symptome, das fast immer bei einer Angststörung zu beobachten ist. Ist ja auch ganz klar. Angst und Panikattacken sind verdammt anstrengend. Und man schläft oft schlecht, wenn man mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Daher ist Müdigkeit/Erschöpfung eigentlich immer mit dabei, wenn man mit Angst und Panikattacken zu tun hat.
Doch es gibt auch körperliche Ursachen für Müdigkeit, beispielsweise ein Vitamin-D- oder Eisenmangel. Wenn Gisela jedoch schon seit über 10 Jahren an dieser bleiernen Müdigkeit leidet, muss sie sich die Frage gefallen lassen, weshalb diese Blutwerte bislang nicht überprüft wurden.
Egal, ob es sich um Müdigkeit, Verspannungen oder ein Zustand ständiger Unruhe handelt: Symptome einer Angststörung sind oft körperlich spürbar. Und darum sollte man in einem ersten Schritt ärztlich abklären lassen, ob die Symptome einen organischen Ursprung haben.
Erst danach kann man akzeptieren, dass hier keine körperliche, sondern eine psychische Ursache vorliegt und daran arbeiten, diese Ursache zu beheben. Vorher zweifelt man naturgemäß daran. Darum ist eine ärztliche Untersuchung so wichtig.
Hört sich nach einem guten Therapeuten an
Ehrlich gesagt, hört sich das für mich nach einem guten Therapeuten an. Ich halte wenig von Therapeuten, die ihren Patienten nur nach dem Mund reden. Ein kritisches Wort zur richtigen Zeit dürfte erlaubt sein.
Wenn wir auf eine Aussage sofort mit heftiger Ablehnung reagieren, kann das ein Hinweis darauf sein, dass gerade dann etwas dran ist. Dann sollten wir hellhörig werden und herausfinden, warum wir so heftig reagieren. Ist tatsächlich nichts dran oder reagieren wir so, weil wir uns ertappt fühlen? Beides ist möglich.
Findest Du Dich in Gisela wieder?
Ein interessanter Blickpunkt, der mir bisher noch nicht untergekommen ist! Fragt sich, ob die Vermeidungshaltung/ der Wunsch, etwas zu vermeiden, auch der Auslöser einer Angststörung sein kann. Dass sich das Vermeiden und die Angststörung auf Dauer immer wieder aufrechterhalten, kann ja durchaus Sinn machen – man hat im Grunde keine Lust auf Aktion X; weiß, dass man dafür evtl. seine Komfortzone verlassen und so eine Panikattacke riskieren müsste, also ist Vermeiden ohnehin der erste Gedanke und so könnte aus „ich habe keine Lust“ unter Umständen „ich habe Angst“ werden. Ohne dass man das bewusst mitbekommt.
Wird gleich in der nächsten Therapiesitzung ausdiskutiert 🙂
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja, das ist gut möglich. Unser Unterbewusstsein kann manchmal ganz schön „tricky“ sein!